Ein neuer Peter-Heiland-Roman
Erschienen Mitte August 2020
Im Wald bei Neuruppin wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden, der nach einer bekannten Mafiamethode hingerichtet und danach nackt in einem abgelegenen Waldstück begraben wurde. Der Tote war offenbar ein kleines Rädchen im Uhrwerk einer Organisation, die illegale Arbeitstrupps vermietet und an Großbaustellen, wie dem Flughafen BER, Millionen abzockt. Peter Heiland steht einem ungewöhnlich infamen Feind gegenüber.
Ein Blitz fuhr über den Himmel. Für einen Augenblick schoss eine unangenehm grelle Helligkeit in den dunklen Kiefernwald. Fast im gleichen Moment folgte ein Donnerschlag. Der Regen hatte sich verstärkt. Der Himmel schien sich zu öffnen. Gewaltige Windstöße warfen mächtige Wassermassen gegen die Baumkronen, die vom Sturm hin und her gepeitscht wurden. Der untersetzte kleine Mann ging, den Oberkörper weit vorgebeugt, den Kopf zwischen den Schultern voraus. Er trug eine blaue Regenjacke mit einer mächtigen Kapuze, in der sein Gesicht fast verschwand. Immer wieder versanken seine Füße tief im Morast. Peter Heiland, der dicht hinter ihm ging, musste grinsen. Der Ukrainer trug edle Lederschuhe, womöglich handgefertigt. ‚Die kann er nachher wegschmeißen‘, dachte der Kommissar.
Er selbst trug gelbe Gummistiefel, die bis zu den Knien hinaufreichten, dazu eine gleichfarbige Jacke, die man allgemein Friesennerz nannte. Auch er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Carl Finkbeiner, der dichtauf folgte, war genauso angezogen und trug in beiden Händen je einen Spaten.
Als sie ungefähr 500 Meter gegangen waren, ließ der Regen plötzlich nach. Im Westen riss der dunkle Himmel auf, zwischen den Baumwipfeln und den Wolken war ein weißer Streifen zu sehen. Sie sprangen über einen schmalen Bach, mussten einen kleinen Anstieg hinauf und erreichten ein dichtes Gehölz. Grosni schlug mit den Armen ein paar Zweige auseinander. „Da vorne“, rief er über die Schulter.
Sie stapften in eine Kuhle hinab, die nur mit niedrigen Büschen bedeckt war. Ein flacher Erdhaufen ragte wenige Zentimeter über die Spitzen der Zweige und sah tatsächlich aus wie ein frisch aufgeworfener Grabhügel.
Finkbeiner und Peter begannen, mit den beiden Spaten den Erdhügel abzugraben. Der Ukrainer stand, mit vor der Brust gekreuzten Armen, breitbeinig daneben. Niemand sprach. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel riss auf. Ein paar Minuten später stand die Sonne direkt über der Lichtung, ungewöhnlich weiß, stechend und grell. Die beiden Kommissare gerieten heftig ins Schwitzen. Nach etwa zehn Minuten richtete sich Peter Heiland auf und drückte Grosni wortlos seinen Spaten in die Hand.
Der Ukrainer war kräftiger als die beiden deutschen Kommissare, und Peter Heiland schien es, als grabe er gezielter, so als ob er genau wüsste, was er wo finden würde.
Während die beiden anderen Männer weitergruben, durchquerte Heiland die Kuhle und stieg auf der gegenüberliegenden Seite durch das dichte Buschwerk die Böschung hinauf. Überrascht stellte er fest, dass von dort ein etwa zwei Meter breiter Pfad auf die Senke zulief. Vermutlich ein Holzabfuhrweg, der hier endete. In der nassen Erde waren Reifenspuren zu erkennen. Heiland zog sein Handy aus der Tasche und fotografierte die tiefen Eindrücke in der nassen Erde. Nachdenklich kehrte er zu den anderen zurück.
Es dauerte noch eine Viertelstunde, da kam, in etwa 50 Zentimetern Tiefe, ein Stück weißer Haut zum Vorschein. Behutsam schoben Carl Finkbeiner und Peter Heiland, der mit den bloßen Händen zu Hilfe kam, weitere Erde zur Seite. Grosnis schweißüberströmtes Gesicht drückte einen gewissen Triumph aus. Er hob die Schultern und gleichzeitig beide Arme, als wollte er sagen: „Hab ichʼs nicht gesagt?“
Carl Finkbeiner deutete mit dem Daumen auf die Leiche. „Und Sie haben das Grab ganz zufällig entdeckt, ja?“
Grosnis Gesicht war sehr ernst. „Wenn ich irgendetwas damit zu tun hätte, hätte ich Sie dann geholt?“
Peter Heiland sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Ja, vielleicht gerade deshalb. Damit Sie genau diese Ausrede anbringen können.“
Zwei starre bleiche Füße traten zutage, danach die Beine, die Lenden, ein schmaler Brustkorb und schließlich der Kopf. Der Tote lag auf dem Rücken, die Arme ruhten ausgestreckt neben dem Körper. Carl Finkbeiner hatte inzwischen die Latexhandschuhe übergestreift. Behutsam säuberte er das Gesicht des nackten Mannes von den letzten Erdresten. Es wirkte unnatürlich glatt. Die Haare waren raspelkurz geschnitten. In der Mitte der Stirn war ein kleines Loch zu sehen, bräunlich rot umrandet von verkrustetem Blut. Die Augen waren weit aufgerissen. Finkbeiner widerstand der Versuchung, sie zuzudrücken.
Peter Heiland zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seiner Abteilung. Norbert Meier war dran. „Schick uns die Spurensicherung und bitte mit dem ganz großen Besteck.“
„Sag bloß, ihr habt wirklich etwas gefunden?“
Peter Heiland antwortete nicht darauf. „Wenn ein Gerichtsmediziner zu fassen ist“, sagte er, „schick ihn gleich mit.“ Dann wendete er sich an den Ukrainer und deutete auf die Leiche: „Kennen Sie den Mann?“
Grosni schüttelte den Kopf und wendete sich ab, als könnte er den Anblick des Toten in der Grube nicht ertragen. Peter Heiland musterte ihn. Er konnte sich täuschen, aber er hatte das Gefühl, dass der Ukrainer versuchte, eine tiefe Erschütterung zu verbergen. Deshalb hakte der Kommissar nach: „Sicher nicht?“
„Ich habe den Mann noch nie gesehen.“ Grosni fuhr sich mit der flachen Hand über die Augen.
Peter Heiland zog seine gummierte Jacke aus, drehte das Innere nach außen, warf sie über einen Baumstumpf und setzte sich darauf. „Sie werden uns eine Menge erklären müssen.“
„Ich?“ Grosni sah den Kommissar an. „Nur weil ich zufällig dieses Grab entdeckt habe?“
„Und Sie haben nicht entdeckt, dass von dort drüben ein bequemer Weg hierherführt?“
„Dort drüben?“ Es klang erstaunt. „Ich bin von da gekommen“, Grosni deutete mit dem Daumen über seine Schulter, „genauso wie wir vorhin. Als ich das Grab gesehen habe, bin ich sofort umgekehrt. Dort drüben war ich nicht.“
Die Beamten der Spurensicherung hatten den Standort der drei Männer über Peter Heilands Handy geortet. Sie näherten sich auf dem Weg, den Heiland entdeckt hatte. Der Kommissar eilte dem Trupp entgegen und stoppte ihn rechtzeitig, um zu verhindern, dass die Reifenspuren verwischt wurden. Der Chef der Spurensicherer grüßte den Kollegen, indem er einen Zeigefinger salutierend an die Stirn legte, und erteilte sofort den Auftrag, die Reifenspuren mit Gips auszugießen, um sie zu sichern.
Der Gerichtsmediziner, ein älterer Mann, der kurz vor der Pensionierung stand, ging mit steifen Schritten die Böschung hinab und näherte sich der Grube, in der die Leiche lag. Die Hände auf dem Rücken, beugte er sich weit vor. „Tscha, sieht nach einer Mafiatat aus: Leiche nackt. Schuss aus kurzer Entfernung direkt in die Stirn. Eine Hinrichtung, wenn Sie so wollen.“ Vorsichtig kraxelte er in die Vertiefung hinunter und ging ächzend in die Hocke. Er nahm einen Arm des Toten in beide Hände, hob ihn an und ließ ihn fallen. Dann richtete er sich mit einem leichten Stöhnen auf und starrte eine Weile auf die nackte Gestalt hinab. „Ein ungewöhnlich schöner junger Mann, finden Sie nicht?“, sagte er zu Peter Heiland.
„Darüber hab ich noch nicht nachgedacht, aber jetzt, wo Sie es sagen …“ Der Kommissar reichte dem Doktor die Hand und half ihm aus der Grube.
„Lang liegt der nicht da drin, sonst hätte sich einiges Ungeziefer an ihm gütlich getan. Genaueres kann ich Ihnen sagen, wenn ich ihn auf meinem Tisch habe.“
Peter Heiland gab Anweisung, die Leiche abzutransportieren. Zwei Männer der Spurensicherung legten das Mordopfer in einen einfachen Blechsarg und trugen ihn zu dem schmalen Waldweg hinüber.
„Herr Grosni!“, rief Peter Heiland. Keine Reaktion. Der Kommissar sah sich suchend um. Der Ukrainer war spurlos verschwunden.