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Il Silencio
Oder was soll ich auf der Schwäbischen Alb?

So heißt der Ost-West-Roman, den ich in den letzten zwölf Monaten geschrieben habe. Ein Mann, Severin Kühn, der kurz nach der Wende als Betriebsleiter die Fima abwickeln musste, zu der er ein Arbeitsleben lang

gehört hat, steht vor dem Nichts. Da erscheint der schwäbische Unternehmer, der das kleine Unternehmen aufgekauft hat und macht ihm ein Angebot. Nach einigem Zögern fährt Severin mit seinem Trabbi los. Schon unterwegs erlebt er, wie anders das andere Deutschland ist. Und als er auf der Schwäbischen Alb ankommt, stößt er in seiner neuen Funktion auf breite Ablehnung. Es ist eine andere Ost-West-Geschichte als die meisten, die wir bislang zu lesen bekamen: Der Ossi mischt den Westen auf.

 

Zusammenfassung

1993. Severin Kühn, bis zur Wende Betriebsleiter der VEB Gerüstbau in Ostberlin, verliert seinen Job, weil ein westlicher Investor die Firma billig von der Treuhand kauft und auflöst. Die Abwicklung des Betriebs muss Kühn übernehmen. Er macht das, wie alles in seinem Leben, pflichtbewusst. An seinem 40. Geburtstag steht der Käufer, Albert Müllerschön, Fabrikant aus Heimeringen auf der Schwäbischen Alb, vor seiner Tür und bietet ihm einen Job in seinem Unternehmen an.

Severin Kühn ist ein begnadeter Techniker und ein leidenschaftlicher Trompeter. Das Instrument hat er sogar auf eigene Kosten bei einem bekannten Berufsmusiker erlernt. Seine Frau hat ihn mitsamt seiner kleinen Tochter Mitte der 80er Jahre verlassen und ist in den Westen gegangen, was er immer verweigert hatte („Bleibe im Land und wehre dich täglich!“).

In seinem Trabbi macht sich Severin Kühn auf den Weg nach Heimeringen durch ein ihm fremdes, weil ganz anderes Deutschland. In dem Dorf auf der Schwäbischen Alb wird er unfreundlich empfangen. Die Mitarbeiter der Müllerschön-Werke vermuten, er solle ihren beliebten Betriebsleiter ersetzen, der in letzter Zeit Schwächen zeigte und sich als Alkoholiker entpuppte. Als Kühn in Heimeringen ankommt, ist der Mann, Georg Lamparter, in einer Kur am Bodensee. Er ist seit zwei Jahren Witwer und kommt in der Tat mit seinem Leben nicht zurecht.

Die schwäbischen Fabrikarbeiter lassen nichts unversucht, um den Ossi wieder loszuwerden. Das geht so weit, dass sie seinen Trabbi in eine hohe Kastanie hängen. Kann noch als Scherz durchgehen, aber sie begehen dann eine gefährliche Sabotage, um Kühn einen unverzeihlichen Fehler zu unterstellen. Die Lebensgefahr für Unbeteiligte nehmen sie billigend in Kauf.

Severin Kühn findet aber auch Freunde. So den klugen Schäfer Ole Petersen (Reingeschmeckter wie er) und dessen Schwester Gretel, die als Heilpraktikerin im Dorf von den einen als Hexe und von den anderen als begnadetet Heilerin bezeichnet wird, und bei der Kühn nach einer längeren Phase in einem Gasthof eine Wohnung findet.

Ein wenig gewinnt der Ossi an Ansehen, als er wesentlich dazu beträgt, dass die örtliche Musikkapelle einen landesweiten Wettbewerb gewinnt. Doch die Feindseligkeiten nehmen rasch wieder zu. Nur Lamparter, der Betriebsleiter bemüht sich um eine gute Zusammenarbeit mit Kühn, die Tatsache anerkennend, dass er wesentlich zu Verbesserungen im Betriebsablauf beiträgt. Es entsteht, für alle überraschend, eine Freundschaft zwischen diesen beiden Männern. Diese Freundschaft erweist sich als besonders wertvoll, als bekannt wird, dass die Firme Müllerschön vor dem Bankrott steht. Der Unternehmer erleidet einen Zusammenbruch, nachdem er die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen um die Sanierung des Unternehmens erkannt hat. Er liegt danach im Koma. Es folgt ein dramatisches Insolvenzverfahren, bei dem es am Ende den beiden gelingt, die Firma zu retten.

In dem Roman besteht ein Bezug zu Victor von Scheffels Verserzählung Der Trompeter von Säckingen (Behüt ich Gott, es wär so schön gewesen …“) Musik begleitet den Leser überhaupt durch das ganze Buch.

Eine interessante Nebenfigur ist der König der schwäbischen Versager aus Berlin, den der Wind auch nach Heimeringen trägt, wo er leider, aber sehr selbstbestimmt, an einem sehr kalten Winterabend mit einer Flasche Wein seinen eigenen Kältetod herbeiführt.

Auch dieser Roman wird erst im Jahr 2022 im Gmeiner Verlag erscheinen können, obwohl das Manuskript abgeschlossen ist. Aber auch in den Verlagen hat die Corona-Krise ihre Spuren hinterlassen. Vieles ist liegen geblieben ist und muss erst einmal nachgearbeitet werden.

 

 

Eine kleine Kostprobe:

 

Severin Kühn saß in seiner kleinen Wohnung in Berlin in der Odersberger Straße. Er fühlte sich an diesem Tag besonders einsam. Dass seine Frau mit der gemeinsamen, damals zehnjährigen Tochter in den Westen abgehauen war, hatte Severin Kühn tief getroffen. Bis

heute war er überzeugt davon, dass ihre Republikflucht eine von ihr bewusst gewählte, besonders perfide Form der Trennung gewesen war. Sie hatte nur noch einen Brief aus Düsseldorf geschickt, und von da an hatte er nichts mehr von ihr gehört.

Inzwischen waren fünf Jahre vergangen. Severin Kühn, am 9. November 1951 geboren, feierte seinen 42. Geburtstag.

Noch vor drei Jahren war das anders gewesen. Er hatte die ganze Mannschaft aus dem Betrieb zu sich nachhause eingeladen. Alle 16 waren gekommen. Ohne Ausnahme. Und alle waren gemeinsam auf die Straße gezogen und Richtung Westberlin gelaufen, als sich herumsprach, dass die Mauer mit einem Mal offen war. Jubel, Trubel, ausgelassene Freude.

Diesmal feierte keiner mit ihm. Die alten Kollegen waren in alle Winde zerstreut, die Firma war über die Treuhand abgewickelt und an ein Westunternehmen veräußert worden. Alle Mitarbeiter wurden freigestellt, also entlassen. Nur Severin Kühn war übriggeblieben. Seine Aufgabe als Betriebsleiter war es gewesen, die Produktionsstätte in Berlin aufzulösen. Die Arbeit hatte er vor wenigen Tagen abgeschlossen. Wie es für ihn weitergehen würde – er hatte keine Ahnung.

In dem volkseigenen Betrieb VEB Gerüstbau waren 17 Männer und Frauen beschäftigt gewesen und sie hatten Erfolg gehabt. Nicht zuletzt dank der technischen Entwicklungen, die Severin Kühn selbst ausgetüftelt hatte. Die Produkte hatten durchaus Weststandard, wie man damals sagte, und wurden deshalb sogar in die Bundesrepublik geliefert. Kühn war unersetzlich und behielt seine Stellung, obwohl er nie in die Partei eingetreten war. Aber nun war alles vorbei.

Er ging ins Schlafzimmer, nahm den Instrumentenkoffer, der oben auf dem Kleiderschrank lag, herunter, packte die Trompete aus, blies in das Mundstück und setzte es auf. Er verließ die Wohnung und stieg durch das Treppenhaus bis zum Dachgeschoss hinauf. Dort öffnete er mit einem Haken an einer langen Stange die Dachluke, zog die Leiter herunter und stieg ins Freie. Die Nacht lag über Berlin. Es roch nach Schnee, und dabei war es doch erst Mitte November. Kühn machte ein paar Schritte auf das flache Dach hinaus. Ein paar Tauben flogen davon. Er ließ sich auf einer umgekehrten Bierkiste nieder, die, solange er zurückdenken konnte, dicht bei einem Kamin stand, sodass man sich an das Ziegelviereck anlehnen konnte. Kühn spürte eine angenehme Wärme in seinem Rücken. Er setzte die Trompete an, blies willkürlich ein paar Noten und begann dann die Melodie von Il Silencio zu spielen. Erst leise, dann immer lauter. Klar schwangen sich die klagenden Töne über die Dächer von Berlin. Hinter den Lichterketten der Prenzlau

Allee öffnete sich das dunkle Areal des Volksparks Friedrichshain. In der anderen Richtung sah man die beleuchtete Spitze des Fernsehturms am Alexanderplatz. Kühn fragte sich, wie weit wohl der Klang seiner Trompete zu hören war.

 

Tags darauf klingelte es schon morgens gegen neun Uhr an seiner Tür. Severin Kühn war noch im Bademantel, seine nackten Füße steckten in alten Filzpantoffeln, die sich langsam auflösten. Er öffnete. Vor ihm stand Albert Müllerschön mit einem Blumenstrauß in der Hand.

Severin starrte den kleinen dicken Mann an. „Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht mit Ihnen“, sagte er.

“Ja, gell!“ Der Besucher drückte dem Hausherrn den Blumenstrauß in die Hand. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich wollt schon gestern Abend vorbeikommen, aber da haben Sie nicht aufgemacht. Ich hab Sie Trompete spielen hören. Ich wusste ja, das können nur Sie sein. Es kam irgendwie vom Dach. Schön! Sehr schön! Ich hab a Weile zug´hört und bin dann wieder in mein kleines Hotel.“

Ein paar Augenblicke standen sich die beiden Männer gegenüber. Severin Kühn überragte den kleinen, gedrungenen Müllerschön um gut 20 Zentimeter. Endlich trat der Hausherr zur Seite. „Kommen Sie doch rein.“

Müllerschön betrat die kleine Wohnung und sah sich neugierig um. „Sie wohnen ganz allein, gell?“

„Wenn Sie wegen meinem Abschlussbericht gekommen sind …“

„Nein, nein“, der Besucher hob abwehrend beide Hände. „Also herzlichen Glückwunsch nochmal. – Es ist ja sehr ordentlich bei Ihnen.“

Kühn nickte nur. „Möchten Sie einen Kaffee?“

„Ja, gerne.“

Severin Kühn ging in die Küche, legte den Blumenstrauß ins Spülbecken, drückte den Stopfen ins Abflussloch und ließ Wasser laufen. Er setzte den Kaffee auf, holte aus dem Hängeschrank über der Spüle eine Schachtel Kekse, drehte das Wasser ab und ging ins Wohnzimmer zurück. Müllerschön hatte sich in den einzigen Sessel gesetzt. Kühn stellte zwei Kaffeetassen, kleine Dessertteller und die Schachtel mit den Keksen auf den niedrigen Couchtisch.

„Tadellose Arbeit!“, sagte sein Besucher und rückte auf dem Sessel bis zur Kante vor.

„Na ja, das bisschen Tischdecken.“

„Das meine ich nicht. Ich rede über die Firmenauflösung.“

„Ach so.“ Kühn ging in die Küche zurück, um den Kaffee zu holen. „Milch? Zucker?“, fragte er über die Schulter.

„Beides bitte, wenn Sie haben.“

Danach saßen sie sich eine ganze Weile stumm gegenüber und rührten in ihren Tassen, ehe der Gast wieder das Wort nahm. „Ich wollte Ihnen ein Angebot machen.“

Überrascht hob Severin Kühn den Kopf.

„Ja, gucken Sie net so. Uns mangelt es hinten und vorne an Fachkräften. Unser Betrieb liegt nun mal auf der Schwäbischen Alb und nicht in Stuttgart-Zuffenhausen oder Sindelfingen.“

Kühn sagte nichts dazu. Er trank einen Schluck Kaffee und sah den Besucher über den Tassenrand hinweg an. Albert Müllerschön war näher an 60 als an 50, schätzte er. Er hatte ein rundes, rosiges Gesicht und kleine graue Augen, sein Mund war schmal und senkte sich rechts und links nach unten, was den Eindruck vermittelte, als missfiele ihm alles, worüber er nachdachte oder sprach. Seine wenigen Haare hatte er quer über seinen kahlen Schädel gekämmt. Beim Reden hob er immer mal wieder eruptiv beide Schultern bis zu den Ohren.

„Waren Sie schon mal in der Gegend?“, fragte Müllerschön.

„Nein. Ich reise nicht.“

„Dabei heißt `s immer, die Leut ausem Osten holen jetzt alles nach, gell. Italien, Frankreich, Spanien oder sogar – was weiß ich – Madagaskar.“

Severin Kühn fand, dass er darauf nicht antworten musste.

Müllerschön tunkte einen Keks in seinen Kaffee und führte ihn langsam zum Mund. „Ich hab denkt, sie könnten sich unseren Betrieb ja mal anschauen und natürlich auch die Gegend bei uns, gell. Es ist a schönes Fleckle Erde.“

„Wie heißt der Ort nochmal?“ Kühn fragte nur, weil er das Gefühl hatte, auch etwas sagen zu müssen.

„Heimeringen, aber des wisset Sie doch!“ Müllerschön schlug sich mit beiden Händen auf die Knie und stand auf. „Ja, also, was meinen Sie?“

„Anschauen kann ich `s mir ja mal.“ Auch Severin Kühn stand auf.

„Sie könnten bis Stuttgart fliegen und dort holt sie einer von meinen Leuten ab.“

Severin schüttelte den Kopf. „Ich fahr mit dem Auto.“

„Ich denk, Sie habet so einen Trabbi.“

„Ja. Wann soll ich da sein?“

„Am besten kommen Sie am übernächsten Sonntag, und dann am Montag in den Betrieb. Ich lass Ihnen ein Zimmer im Goldenen Ochsen reservieren.“ Müllerschön streckte Kühn seine kleine fleischige Hand hin. „Abgemacht! Über die Modalitäten reden wir dann in Heimeringen.“

Kühn nickte und brachte seinen Gast zur Tür. Als sie sich hinter Müllerschön geschlossen hatte, blieb der Hausherr eine ganze Zeit regungslos stehen. Schließlich kam wieder Bewegung in ihn. Er ging zum Couchtisch, um abzuräumen. „Was soll ich auf der Schwäbischen Alb?“, brummte er, als er die Tassen und Teller ins Spülbecken stapelte.


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